Von Generation zu Generation:
Österreich und das Immaterielle Kulturerbe
Das Immaterielle Kulturerbe (IKE) existiert seit etwa 20 Jahren in unserem Sprachgebrauch. Der Begriff IKE wurde von der UNESCO 2003 weltweit durch die Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes als Pendant und Ergänzung zum materiellen Weltkulturerbe etabliert. Mit diesem Übereinkommen werden Bräuche, Rituale und gesellschaftliche Praktiken, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten von Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als wertvoller, identitätsstiftender Bestandteil des kulturellen Erbes anerkannt. Immaterielles Kulturerbe wird von einer Generation an die nächste weitergegeben, dabei fortwährend kreativ weiterentwickelt und an gesellschaftliche Entwicklungen angepasst. (vgl. Definition in Artikel 2 des UNESCO-Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes).
Die Konvention nennt 5 Bereiche für IKE:
- mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen, einschließlich der Sprache als Träger des immateriellen Kulturerbes,
- darstellende Künste wie Musik, Tanz und Theater,
- gesellschaftliche Bräuche, soziale Praktiken, Rituale und Feste,
- Wissen und Praktiken im Umgang mit der Natur und dem Universum sowie
- traditionelle Handwerkstechniken.
Österreich ist dem Übereinkommen 2009 beigetreten. Damit hat der Staat unter anderem die Verpflichtung übernommen, ein nationales Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes zu erstellen. Gerade diese Maßnahme – von Wissenschaft und Medien zunächst durchaus kritisch als naive und kulturpolitisch bedenkliche Verherrlichung der Vergangenheit kommentiert – erzeugte sehr rasch Aufmerksamkeit und Interesse für gelebte Traditionen. Plötzlich standen nicht mehr nur die Liebenswürdigkeit und touristische Attraktion von lokaler Überlieferung im Zentrum des Interesses.
Vielmehr öffnet das Verzeichnis den Blick auf eine Fülle von erprobten Modellen eines gedeihlichen Miteinanders von Gemeinschaften. Überliefert wird das Wissen über die Welt, in der wir leben, und das Gestalten von Beziehungen – zu Menschen, zur Natur, zur Arbeit, in den Mußestunden und an Feiertagen. Aktuelle Themen wie nachhaltiger Umgang mit Ressourcen, Nahversorgung mit regionalen Produkten, respektvolle Aufmerksamkeit für überliefertes Wissen und Können etwa in der Gesundheitsvorsorge, im handwerklichen Bereich und in der Tierhaltung erhöhen die öffentliche Wahrnehmung und Wertschätzung.
Eine lange, mitunter Jahrhunderte überdauernde Weitergabe von Traditionen kann allerdings auch polarisieren. Zwischen aktuellen, oft urban geprägten Lebenswirklichkeiten und den aus verschiedenen historischen Bezugsrahmen entstandenen Überlieferungen können unterschiedlichste Interpretationen und Auffassungen über die Bedeutung und Sinnhaftigkeit von IKE für die gegenwärtige Gesellschaft entstehen. Dieser Tatsache kann nur mit einem offenen und interdisziplinären Diskurs begegnet werden. Daher ist bereits der Prozess einer seriösen Beschreibung von regionaler Überlieferung inhaltlich zu begleiten und auch die vielfältigen Motivationen zur Bewerbung wie die Auswirkungen der Eintragung ins österreichische Verzeichnis zu erfassen. Dabei treten immer wieder Fragen auf, wie z.B.:
- Was bewirkt die mediale Aufmerksamkeit?
- Welche ökonomische Wertschöpfung wird dadurch in Gang gesetzt?
- Inwiefern beeinflusst die Aufnahme in das Verzeichnis die weitere Ausübung einer Tradition?
Als ein wesentliches Kriterium in der Identifizierung und auch für die weitere Erhaltung von IKE wird im Übereinkommen die beständige kreative Weiterentwicklung und Weitergabe der Traditionen genannt. Was aber fördert darüber hinaus die Lebensfähigkeit von Immateriellem Kulturerbe? In welcher Weise beeinflusst der Grad an Inklusion bzw. Exklusion diesen Prozess? Wie lassen sich diese Bemühungen um den Fortbestand von Traditionen mit der Auffassung von einer „posttraditionalen Gesellschaft“ vereinbaren (Drascek 2022:14)? Eine begleitende Beobachtung und Evaluierung der Aufnahmeverfahren und ihrer Folgewirkungen nach wissenschaftlichen Vorgaben stehen nach wie vor auf der Maßnahmen-Wunschliste ganz oben.
Abgesehen von all diesen offenen Fragen und der oft schwierigen Aufgabe, über transparente und partizipative Prozesse mit allen Beteiligten zwischen Staat und Zivilgesellschaft, Bund und Ländern, sowie zwischen wissenschaftlichen, kulturpolitischen und individuellen emotionalen Ansichten zu vermitteln, eröffnete das Übereinkommen in Österreich ungeahnte Möglichkeiten der interdisziplinären Zusammenarbeit sowie der öffentlichen Diskussion über gesellschaftliche Werte. Die Betonung der Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Beitrags vor einer Fachexpertise sowie einer politischen oder administrativen Entscheidung macht die außerordentliche Popularität des Übereinkommens aus. Die Aktivierung und Ermächtigung der Zivilgesellschaft stärkt auch marginalisierte Gruppen (vgl. Artikel 15) und fördert ihre Mitwirkung an der Gestaltung des öffentlichen Lebens.
Neben der Erstellung eines nationalen Verzeichnisses für IKE übernehmen die Mitgliedstaaten auch die Verpflichtung, relevante Richtlinien und/oder rechtliche und administrative Maßnahmen als Grundlage für Gestaltung, Entwicklung, Bereitstellung und Umsetzung wirksamer und nachhaltiger Programme und Aktivitäten zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes zu schaffen (vgl. Artikel 13a). Die Integration von Immateriellem Kulturerbe in eine umfassende, strategische Planung ist in Österreich jedoch nach wie vor ausständig. Der österreichische Staatenbericht zur Umsetzung des Übereinkommens aus dem Jahr 2021 hält fest, dass bisher weder auf Bundes- noch auf Länderebene entsprechende Richtlinien und/oder Maßnahmen umgesetzt wurden. Hier ist insbesondere der kulturpolitische Sektor gefragt (vgl. Operative Richtlinien 171(d)). Positiv ist, dass Österreich seit der Ratifizierung 2009 zahlreiche innovative und inspirierende Schritte zum besseren Verständnis der inhaltlichen Bandbreite des Immateriellen Kulturerbes gesetzt hat. Das mediale und öffentliche Interesse sowie eine Erweiterung des Kulturbegriffes vor allem in den kulturellen Verwaltungseinrichtungen zeigen steigende Auswirkungen.
Kulturelle Teilhabe ist ein Aspekt gesellschaftspolitischer Bemühungen um politische, wirtschaftliche oder soziale Partizipation, wie sie moderne Demokratien anstreben. So verstanden, bedeutet das Sichtbarmachen und Erhalten des Immateriellen Kulturerbes keine rückwärtsgewandte Verklärung der Vergangenheit. Vielmehr kann das UNESCO-Übereinkommen 2003 einen konstruktiven Beitrag zur demokratischen Weiterentwicklung unserer Gesellschaft leisten.
Referenzliste:
UNESCO Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes, 17. Oktober 2003,
ratifiziert durch 181 Staaten (Stand 03. Mai 2024), in Kraft getreten am 20. April 2006, für Österreich am 9. Juli 2009 in Kraft getreten.
Drascek, D. (2022). Immaterielles Kulturerbe – Aushandlungsprozesse und Kontroversen. In
Drascek, D., Groschwitz, H., Wolf, G. (Hrsg.), Kulturerbe als kulturelle Praxis – Kulturerbe in der Beratungspraxis, Bayrische Schriften zur Volkskunde 12. München: Bayrischen Akademie der Wissenschaften. 9-24.
Walcher, M., Weinlich, E.A. (2018). Ein Erbe für alle.103 Traditionen aus Österreich. Wien: Folio.