Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes:
Ethische Standards und Richtlinien

Die UNESCO Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes von 2003 ist einer der jüngsten und gleichzeitig erfolgreichsten UNESCO-Völkerrechtsverträge im Kulturbereich. Mittlerweile arbeiten mehr als 180 Staaten an der Umsetzung der Ziele dieses internationalen Übereinkommens, nämlich an der Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes (IKE), der Sicherung des dafür nötigen Respekts sowie der Steigerung des Bewusstseins für die Bedeutung von IKE und seiner Wertschätzung auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Die Förderung der internationalen Zusammenarbeit und Unterstützung ist dabei ebenfalls von großer Bedeutung für die UNESCO. 

 

Im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen dabei die Menschen – Einzelpersonen, Gruppen oder größere Gemeinschaften, die das IKE ausüben und pflegen. Ihnen soll die Unterstützung zuteilwerden, die nötig ist, um ein stärkeres Bewusstsein für die Bedeutung des IKE und seine Erhaltung zu entwickeln. Maßnahmen dafür sind Verzeichnisse, um das IKE möglichst umfassend zu dokumentieren, Bildungsangebote, öffentlichkeitswirksame Aktivitäten, uvm 

Aber: Es geht nicht nur darum, was getan wird, um diese Ziele zu erreichen .Wie diese Ziele gemeinsam erreicht werden können, ist eine der zentralen Fragen, die die internationale Staatengemeinschaft seit vielen Jahren beschäftigt

 

In den meisten Fällen ist für eine erfolgreiche Vermittlung und Weitergabe des IKE eine Zusammenarbeit von verschiedenen Personen sowie Institutionen notwendig. Wenn sich dabei unterschiedliche Interessen und/oder normativen Vorstellungen gegenüberstehen, können Spannungen und Konflikte entstehen, z.B. im Austausch von Informationen (etwa zwischen Traditionsträger*innen und Wissenschaftler*innen oder Traditionsträger*innen und Touristiker*innen), bei der Beantragung von Fördermitteln oder bei der Planung von Medienproduktionen. Aber es können auch innerhalb einer Gemeinschaft Diskussionen entstehen, wenn zum Beispiel Uneinigkeit darüber herrscht, wie sich eine Tradition weiterentwickeln soll und darf. 

 

Während im Konventionstext festgelegt ist, was zur Erhaltung von IKE notwendig ist und getan werden sollte, regeln die Ethischen Prinzipien (EP) das Wie der Zusammenarbeit. Als international anerkanntes Regelwerk beschreiben sie, ähnlich einem Verhaltenskodex, grundlegende Erwartungen für einen respektvollen Umgang mit- und untereinander. Sie entsprechen den Grundsätzen des Übereinkommens und spiegeln die gemeinsamen Werte und Normen über richtiges bzw. gutes Handeln bei der Erhaltung des IKE wider, auf die sich die internationale Staatengemeinschaft im Jahr 2015 geeinigt hat. Nachfolgend werden diese Grundsätze nun zusammenfassend präsentiert. 

  

Das Recht auf Respekt
Im Geist der Konvention betonen auch die Ethischen Prinzipien ausdrücklich die zentrale Rolle der Gemeinschaften, Gruppen und ggf. Einzelpersonen, die das IKE praktizieren und pflegen, und unterstreichen ihre Rechte. Dazu zählt etwa ihr Recht auf freie Ausübung ihrer Tradition (EP1, EP2), wobei Traditionspflege diskriminierendes Verhalten nicht toleriert (EP3, EP11). Würde, Gleichheit und gegenseitiger Respekt zwischen den Menschen und Völkern sind Grundprinzipien der UNESCO, die alle Formen der Diskriminierung verurteilt. Tatsächlich hat das wachsende Bewusstsein für das IKE in vielen Ländern eine Reihe von Debatten über Diskriminierung, kulturelle Aneignung aber auch Tierwohl oder Tierschutz ausgelöst. Viele Staaten entwickelten deshalb unterschiedliche Strategien, um Erhaltungsmaßnahmen inklusiver und selbstreflexiver zu machen. In den Niederlanden wurde beispielweise im Rahmen des Projekts „Heritage in Motion“[i] des Kenniscentrum Immaterieel Erfgoed  ein öffentlicher Dialog zur Tradition des Heiligen Nikolaus und seines Begleiters „Schwarzer Piet“ (Zwarte Piet) geführt, um unterschiedliche Perspektiven zu beleuchten und einen Austausch der unterschiedlichen Meinungen auf Augenhöhe anzuregen.

Derartige Debatten sind wichtig und brauchen entsprechenden Raum und Zeit. Wenn IKE zum Gegenstand von Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten wird, übernehmen auch die Medien eine bedeutende Rolle. Durch das Initiieren öffentlicher Debatten, in denen Fakten vermittelt und unterschiedliche Positionen beleuchtet werden, können sie als Meinungsmacher*innen agieren: Sie haben die Macht, öffentliche Konflikte um IKE zu verschärfen oder eine vermittelnde Funktion einzunehmen. Ihr Einfluss bestimmt maßgeblich, ob und wie Personen bzw. Gruppen und deren IKE von der Gesellschaft respektiert und anerkannt werden. Mit Verweis auf EP 6 sei dazu angemerkt, dass keine Tradition „einzigartiger“, „echter“ oder „authentischer“ ist als die andere und somit mehr oder weniger erhaltenswert. Die Bedeutung bzw. der Wert einer Tradition wird ausschließlich von der ausübenden Gemeinschaft oder Gruppe selbst bestimmt, nicht von außenstehenden Personen. EP 6 stellt ausdrücklich klar, dass IKE nicht Gegenstand externer Werturteile sein sollte.


Inwertsetzung und dessen Folgen  

Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass IKE eine enorme Öffentlichkeitswirkung hat. Das Interesse von außen wächst und die Anzahl an Forschungsprojekten, medialen Beiträgen und Tourismusstrategien, die ein IKE betreffen, ist ungebrochen hoch. Die öffentliche Aufmerksamkeit kann aber auch zum Problem werden, wie ein Beispiel aus Belarus zeigt. Eine Weihnachtsprozession, der sog. Kaliady Tzars Rite [ii], wurde dort nach der Aufnahme in die UNESCO Repräsentative Liste durch unüberlegte Vermarktungsstrategien mit Folklorisierungstendenzen vom Besucher*innenansturm in der Ausübung behindert. Basierend auf den ethischen Grundsätzen des Übereinkommens entwickelten die Gemeinschaften zusammen mit Wissenschaftler*innen ein „Community Protokoll“, das sowohl den Zugang zur Prozession regelt als auch Verhaltensregeln für die Presse bzw. den Tourismus festlegt. 


Gemäß den ethischen Prinzipien muss der Zugang der ausübenden Personen oder Gruppen zu ihrem IKE und den dazugehörigen (materiellen) Objekten und/oder Räumen in jedem Fall gewährleistet werden. Zum Teil sind dafür Zugangsbeschränkungen notwendig, die von Außenstehenden respektiert und anerkannt werden sollten (EP 5). Bei der Durchführung von Projekten oder Veranstaltungen, die ein IKE betreffen, sollte außerdem immer die Zustimmung der Ausübenden eingeholt werden, d.h. die betroffenen Personen bzw. Gruppen sollten vorab informiert werden und dem Vorhaben zustimmen bzw. in die Planung und Umsetzung eingebunden werden (EP4). Darüber hinaus sollte von den Verantwortlichen sichergestellt werden, dass die Zusammenarbeit transparent geregelt ist und die betroffenen Gruppen oder Einzelpersonen davon profitieren (EP 7). Ein Beispiel: In Litauen entwickelten Gemeinden, Vereine, Unternehmen und die Kommunalverwaltung (insg. 50 Stakeholder*innen) gemeinsam eine langfristige Strategie zur ländlichen Entwicklung. Dabei wurde das IKE als wesentlicher Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der Regionen anerkannt und in diese Strategie integriert. Basierend auf den ethischen Grundsätzen berücksichtigt der Plan auch die zentrale Rolle der Gemeinschaften bzw. Träger*innen bei der Identifizierung und Weitergabe ihres IKEs. Damit soll sichergestellt werden, dass sie es sind, die von der Nutzung bzw. Inwertsetzung des IKEs z.B. in den Bereichen Handwerk und Landwirtschaft profitieren. Dieser umfassende Plan wurde 2021 von der litauischen Regierung angenommen. 
 

Vertragliche Verpflichtungen

In den zwanzig Jahren seiner Umsetzung hat das Übereinkommen das Konzept des Kulturerbes erheblich erweitert und einige seiner Hauptziele erreicht: das Bewusstsein für die Bedeutung von IKE und seiner Erhaltung zu schärfen sowie die Sichtbarkeit von IKE auf allen Ebenen zu erhöhen und die Gemeinschaften in den Mittelpunkt zu stellen. Darüber hinaus hatten vor zwanzig Jahren nur wenige Länder das IKE in ihre Politik integriert, doch heute ist das Übereinkommen zu einem wichtigen Bezugspunkt bei der Einrichtung von Institutionen und bei der Umsetzung öffentlicher Richtlinien und Gesetze geworden, wie die Berichte der Mitgliedsstaaten belegen. 

 

Leider sind die Ethischen Prinzipien in vielen Ländern, so auch in Österreich, noch weitgehend unbekannt, obwohl sie den Träger*innen und Gemeinschaften eine wichtige Referenz bieten, etwa im Fall von unzureichender Vergütung, übermäßiger Kommerzialisierung, oder abwertenden Darstellungen. Aber auch in Bezug auf gesetzliche Rahmenbedingungen können die Ethischen Prinzipien Unterstützung bieten, wenn es beispielsweise zu Widersprüchen zwischen Gewohnheitsrechten und Umweltvorschriften kommt, die den Zugang zu natürlichen Ressourcen betreffen. Oder wenn neue Vorschriften erlassen werden, die beispielsweise die Herstellung und den Verkauf von traditionellen Produkten im Lebensmittelbereich oder im Bereich der traditionellen Medizin plötzlich verunmöglichen oder in die Illegalität drängen. Mangelndes Wissen über die Intentionen und Ziele der Konvention können sich nachteilig auf die (Über-) Lebensfähigkeit des IKE auswirken. 

 

Aus den internationalen Erfahrungen hat sich gezeigt, dass eine bessere Kenntnis der 12 Ethischen Prinzipien bei der Erhaltung des IKEs helfen kann, einen moralischen, rechtlichen oder kommerziellen Missbrauch von IKE zu verhindern und das Engagement der Gemeinschaften, Gruppen und Einzelpersonen zu stärken. Sie sind ein wichtiges Instrument, um gemeinsam die Ziele der Konvention zu erreichen: die Vielfalt an kulturellen Praktiken anzuerkennen und diese in ihrer Bedeutung für die soziale und kulturelle Teilhabe zu stärken


[i] Mehr zum Heritage in Motion-Projekt finden Sie auf der Webseite des niederländischen Zentrums für IKE: https://www.immaterieelerfgoed.nl/en/controversieelerfgoed

[ii] Das Element „Rite of the Kalyady Tsars (Christmas Tsars) wurde 2009 in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen: https://ich.unesco.org/en/USL/rite-of-the-kalyady-tsars-christmas-tsars-00308

Autorin

Gabriele Detschmann,  Kulturvermittlerin und Mitbegründerin des Vereins I N D I G O elementar. Seit 2019 ist sie Mitglied des internationalen Facilitator-Netzwerks für das globale Capacity Building-Programm der Konvention von 2003.